Ferien-Neider
Die Menschheit, ohnehin in jeder Zeit und Epoche dauerhaft zerstritten, zerfällt gegenwärtig noch mehr als sonst: In denjenigen Teil, der Ferien hat. Und denjenigen ohne. In der Regel wird der erste Teil glühend beneidet vom zweiten. Was ich jedoch heute lernte, ist dies: Der Neid hält sich derzeit auffällig in Grenzen. Aus verschiedenen Gründen. Da ist einmal das Wetter. Jeder Tag dieses miesen Sommerwetters mit deprimierenden nieder- (wörtlich übersetzt drückenden) Wolkendecken über der Ost-Heide lässt die arbeitende Schicht der Bevölkerung morgens beim hoffnungsvollen Blick aus dem Schlafzimmer frohlocken: Gott sei Dank, wieder ein schlechter Tag! Auf den schaue ich gerne aus dem Bürofenster oder Hörsaal, aus der Fabrikhalle oder vom Bagger aus. Denn wer jetzt urlaubt, friert und flucht. Oder spielt mürrisch Gesellschaftsspiele. Oder spielt mit Ferienabbruchs- oder Kirchenaustrittsgedanken, weil mit Gott eher gehadert werden kann als mit dem Reisebüro. Für den beglückt zum miesen Wetter Schauenden steigen die Chancen für den noch bevorstehenden Urlaub allein aufgrund der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die ist immer noch wahrscheinlicher als die wissenschaftlich begründetsten Wetternachrichten. Nichts wäre jetzt, wo ich noch arbeiten muss, schlimmer, als bei strahlendem Himmelsblau durch diese Scheiben zu gucken und viele strahlende Menschen in wenig Textilien mit Eis oder Foto oder der Liebsten Hand in der Hand erblicken zu müssen! Das also ist der erste Grund, weswegen es derzeit wenig Neider auf Urlauber gibt. Den zweiten Grund las ich in einer Psychologie-Zeitschrift. „Rolling back-syndrom" nennen die amerikanischen Kollegen jenen Typus, der aus Angst vor den sich Zuhause häufenden Arbeitsbergen - gar nicht erst von Zuhause (und damit ist meist die Firma gemeint) wegfährt. Asthmatische Beschwerden, Traum-Angstzustände und Hautexeme sammelten die Forscher bei zunehmend vielen Menschen, die sich Urlaub (kommt etymologisch u. a. von er-lauben) gar nicht mehr erst erlauben. Die Heimkehr zu den Zuhause wartenden Postbergen würde diesen Typ Urlauber bereits die Alpen - oder Nevada-Berge nur überschattet wahrnehmen lassen, auf deren Gipfel er noch steht. Und durchs Fernglas in die Weite doch nur die sich biegende Schreibtischplatte erblickt. Den „angst-antizipierenden Typus“ nennen wir das. Ärzte mit ihren von Post überquellenden Briefkasten gehören dazu. Manager, die erst ein Psycho-Training brauchen, um die Trennung vom Handy überhaupt zu versuchen. Oder Kolumnisten gehören dazu, die sich vom Laptop nicht mal am Strand trennen können. Der dritte Grund für den derzeit nicht sichtbaren Urlaubsneid ist darin zu sehen, daß die Ferienwelle soeben erst zu plätschern begann. Die meisten haben das Glück noch vor sich. Es - das Glück ist eben immer und in allen Zeiten für den Menschen nur dort gewesen, wo er selbst gerade nicht ist. Sagte Epikur, der Glücksforscher und- Philosoph. Er übrigens fasste jeden Tag seines Lebens als Glück auf. Obwohl er mehrere Male seine Heimat wie sein Hemd wechseln musste, obwohl er kaum Geld von seinen Philosophie-Schülern erhielt und an vielen Krankheiten litt. Ein Mensch, dessen Glück dort war, wo er selbst war.
02. Juli 1996